Zurückgeschenkte Zeit?
Regens Dr. Menke-Peitzmeyer in dem Kirchlichen Beitrag für die „Neue Westfälische“ vom 27. März 2020
Die erzwungene Alltagsunterbrechung, die uns die Corona-Krisenzeit beschert, lässt mich im Nachgang über Erlebtes „stolpern“, das mir im Normalfall nicht sonderlich aufgefallen wäre: Da erwähnte dieser Tage ein Kollege im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Situation beiläufig folgenden Bibelvers: „Das Land bekam seine Sabbate ersetzt.“ Die Aussage entstammt dem Alten Testament (2 Chr 36,21) und beschreibt eine Zeit im 6. Jh. vor Christus: Der König von Babylon, Nebukadnezzar, hielt das Land Juda und dessen Bewohner besetzt und zerstörte die Stadt Jerusalem. Ein Großteil der Einwohner wurde zur Zwangsarbeit nach Babylon verschleppt. Mit einem einzigen Satz wird hier die unmittelbare Folge für das Land Juda beschrieben, und gemeint ist durchaus wörtlich der landwirtschaftliche Boden samt Flora und Fauna: Das Land bekam seine Sabbate ersetzt. Es konnte aufatmen, sich erholen und nach Luft schnappen. Zu große Umtriebigkeit, ausgedehntes Streben nach Ertrag, Erfolg und Macht hatten ihm vorher seine Regenerationszeiten gestohlen und es ausgelaugt. Jetzt hat es für eine Weile Ruhe – auch vor den Menschen. Dass es damals so gekommen ist, hat der biblische Autor als direkte Strafe Gottes ausgelegt. Von einer solchen Deutung nehmen wir heute entschieden Abstand. Doch bleibt die Aufgabe für jeden von uns, für sich einen persönlichen Sinn zu finden in der Zwangspause, die uns auferlegt ist. Ob es da nicht auch zu einer neuen Wertschätzung unseres „Sabbats“, des Sonntags kommen könnte? Der wöchentliche Ruhetag ist in der Bibel ein Tag, an dem der Mensch und die Natur in Gottes Gegenwart pausieren und aufatmen dürfen. Der gläubige Mensch weiß: Ich darf teilnehmen an der Ruhe Gottes, kann mich regenerieren und Kraft schöpfen für kommende Herausforderungen im Alltag. Auch wenn vielen von uns in diesen Tagen beileibe nicht nach entspannter Ruhe zumute ist und uns berechtigte Existenzsorgen bedrängen: Wie wäre es, die weitgehenden Ausgangsbeschränkungen nicht nur als maximale Begrenzung unserer persönlichen Freiheit anzusehen, sondern auch als Chance? Nämlich als kleinen Fingerzeig, die gesetzlich verordnete Sabbatruhe nicht nur zur notgedrungenen Entschleunigung, sondern ebenso zur Regeneration und vielleicht auch zu neuen oder vertieften Kontakten zu nutzen – und zwar ohne Erfolgsdruck! Wenn es dieser Tage gilt, physische und damit unmittelbare Kontakte zu anderen Menschen zu vermeiden, tun sich möglicherweise neue Gelegenheiten auf, miteinander in Beziehung zu treten: Ich erfahre es als belebend, alte Freunde wieder häufiger zu kontaktieren, Bindungen zu stärken, die lose und locker geworden waren und mit Familienmitgliedern und Nachbarn näher zu rücken. Dabei lösen sich manchmal sogar verborgene Konflikte. Vermutlich hat Gott sich schon damals, bei der Einrichtung des Sabbats, etwas dabei gedacht, uns Menschen einmal wöchentlich eine solche Zeit der Unterbrechung einzuräumen.
Msgr. Dr. Michael Menke-Peitzmeyer, Leiter des Priesterseminars Paderborn